„Dieses seltsame Mischgebilde von Haus und Straße“. Die Passage und ihre Darstellung bei Louis Aragon und Walter Benjamin

par Anne Christine Bussard

Die vorliegende Untersuchung analysiert das Verhältnis von Walter Benjamins Passagenwerk (1927-1940) zu jenem Text, der nachweislich an dessen Beginn steht: Louis Aragons Le passage de l’Opéra (1924). Anhand der Darstellung des gemeinsamen Gegenstandes untersucht „Dieses seltsame Mischgebilde von Haus und Straße“. Die Passage und ihre Darstellung bei Louis Aragon und Walter Benjamin den Einfluss von Aragons surrealistischer Passagenbeschreibung auf Benjamins Studie über die Pariser Passagen, die sich zunächst sehr stark an diesem Text orientiert und sich später ausdrücklich von Aragon abgrenzt. Während die anfängliche Nähe zu Le passage de l’Opéra, aus der Benjamin 1927 oder 1928 einige Auszüge übersetzt, auf inhaltlich-thematischer, formaler und poetologisch-ästhetischer Ebene aufgezeigt wird, macht ein raumhistorischer Untersuchungsansatz auch in späteren Schriften Verbindungen sichtbar. In diesen späteren Entwürfen rücken ausgehend von der im 19. Jahrhundert entstandenen Architekturform auch die baulichen, sozialen und ökonomischen Veränderungen dieser Epoche ins Blickfeld. Vor diesem historischen Hintergrund verwandelt sich die Passage von einem Feenpalast und einer verträumten Tiefseewelt in einen Tempel des Warenkapitals und einen kollektiven Wohnraum. Sind es zunächst vor allem ähnliche Bilder und Motive, über die sich Benjamins Passagentexte Aragons Inszenierung der Passage als Menschen-Aquarium sowie als surrealistische Traumwelt annähern, bilden in jüngeren Überlegungen architekturgeschichtliche Verwandtschaftsbeziehungen zwischen der glasüberdachten Passage und jenen Räumen, mit denen Benjamin diese in Beziehung bringt, eine Verbindung zu Le passage de l’Opéra. Die Untersuchung zeigt, dass Aquarium und Interieur nicht nur bauliche Parallelen aufweisen, sondern von Benjamin auch über dieselbe Begrifflichkeit, mit der er den Wohnraum von Fischen und Menschen beschreibt, miteinander verknüpft werden. Durch die Konstellation von Passage, Aquarium und Interieur, die alle im 19. Jahrhundert entstehen, wird der in Benjamins Beschreibungen reflektierte entwicklungsgeschichtliche Zusammenhang zwischen diesen Raumkonzeptionen deutlich: Während das Aquarium, das als öffentliches Grottenaquarium aufkommt, gegen Ende des Jahrhunderts als „See im Glase“ in die bürgerlichen Wohnzimmer Einzug hält und der große Glaskasten der Passage vom metaphorischen Aquarium zur Wohnung wird, gleicht sich umgekehrt das durch bauliche Neuerungen immer mehr zu einem transparenten Durchgangsraum werdende Interieur allmählich der Architekturform des von Aragon gezeichneten „Menschen-Aquariums“ an. An der Geschichte dieser Räume macht Benjamin nicht nur die Inszenierung der Passage als „seltsames Mischgebilde von Haus und Straße“ fest. Durch die historische Einordnung der Passage als Vorläufer des modernen Glasbaus bekommt die räumliche Zweideutigkeit der zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst veralteten Bauform zugleich eine zeitliche Komponente, über die Benjamin aus dem mythisch-archaischen Bildraum Aragons einen Geschichtsraum entwickelt. Anhand räumlicher bzw. raumhistorischer Elemente, die mittels einer expressiven Formsprache der Verschränkung, der Durchdringung und der Superposition dargestellt werden, die ebenso die Erfahrungsräume der traum- und rauschhaften surrealistischen Passagen wie die nüchternen Raumkonzeptionen des Neuen Bauens beschreiben, zeigt die vorliegende Untersuchung, wie Aragons Le passage de l’Opéra Benjamins Passagenwerk von den frühen surrealistisch geprägten bis hin zu den späteren material-historisch ausgerichteten Schriften beeinflusst. 

 

La thèse a été soutenue le 16 décembre 2016.

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