«Beim Übersetzen komme ich meiner Muttersprache näher.»
Ein Porträt auf Skype oder Zoom? Interviewfragen hin und her mailen? Das wäre uns dann doch zu distanziert gewesen. Gut, dass wir beide in Zürich wohnen. Ich traf mich mit Yves Raeber mit genügendem Abstand persönlich zum Interview.
Interview: Steven Wyss; Fotos: Raffael Thielmann
Yves Raeber ist nicht nur Literaturübersetzer, sondern auch zweisprachiger Theatermacher, Sprecher und Moderator.
16:30 Uhr, eine Dachterrasse im Zürcher Kreis 6. Yves Raeber kommt die Treppe hoch. Wir geniessen erstmal den Ausblick. Hier ganz in der Nähe sei er als Kind in den Geigenunterricht gegangen, erzählt er ans Geländer gelehnt. Alles steht bereit: Bücher, Bier, Desinfektionsmittel. Wir setzen uns im coronakonformen Abstand je ans gegenüberliegende Kopfende des Tisches. Yves möchte lieber noch kein Bier trinken und fragt nach einem Glas Wasser. Ich hingegen nehme einen ersten Schluck Bier.
Steven Wyss: Du bist Schauspieler, Sprecher und Übersetzer. Wie kam es dazu? Hast du schon immer übersetzt oder bist du da eher reingerutscht?
Yves Raeber: Meine Eltern waren beide Übersetzer, jedoch nicht für Literatur, sondern für Gebrauchstexte. Mein Vater war ein begnadeter Laienschauspieler.
Ich sehe, dir wurde also beides schon in die Wiege gelegt.
Als es um die Berufswahl ging, war für mich klar, dass ich Theater machen wollte. Also habe ich in Paris eine Grundausbildung als Schauspieler gemacht und meine ersten und wichtigsten Theaterjahre in einem Ensemble in der Romandie verbracht. Dort fing es an mit dem Übersetzen. Ich habe ein Kinderstück übersetzt, weil wir das im Ensemble brauchten. Später habe ich immer wieder Theaterstücke übersetzt; teilweise für meine eigenen Inszenierungen im Freien Theater, zum Teil, weil es mit der Zeit auch andere Anfragen an mich gab. Insgesamt habe ich etwa ein Dutzend Stücke übersetzt.
«Ich habe eine Art ‹Papageienbegabung›, ein Gespür für den Klang von Sprachen», erzählt Yves Raeber im Interview.
Prosa kam erst später?
Prosa übersetze ich erst seit fünf oder sechs Jahren. Ich habe mich lange nicht getraut. Ich dachte, das sei zu anspruchsvoll. Und ich hatte wahrscheinlich auch nicht die nötige Ruhe. Jetzt stehe ich an einem anderen Punkt im Leben.
Was bedeutet Übersetzen für dich?
Abgesehen von der Liebe zur Literatur ist das Übersetzen für mich ein Ort der Begegnung mit mir selbst. Man sagt ja, dass man in die Muttersprache übersetzen soll. Ich weiss aber immer noch nicht, was meine Muttersprache ist. Habe ich eine oder habe ich zwei? Beim Übersetzen komme ich meiner Muttersprache näher. Ich glaube, sie liegt irgendwo in der Begegnung zwischen Deutsch und Französisch.
Du bist also zweisprachig aufgewachsen?
Zu Hause bin ich frankophon aufgewachsen – mit französischer Küche, französischer Literatur, französischer Kultur. Wir wohnten aber in Zürich, also kam im Kindergarten erst das Schweizerdeutsche und in der Schule dann das Hochdeutsche hinzu. Ich habe keine ausserordentliche Sprachbegabung, habe aber ein Gespür für den Klang von Sprachen, eine Art «Papageienbegabung». Das vermischt sich mit Erlebtem und den Büchern, die ich lese.
Eine Begabung also, die sowohl für einen Schauspieler als auch für einen Übersetzer sehr nützlich ist. Es gibt ja durchaus Parallelen zwischen dem Theater und dem Übersetzen, geht es doch bei beidem darum, aus einer Textvorlage etwas Neues zu schaffen.
Ja, tatsächlich. Ich habe inzwischen den Verdacht, dass das Übersetzen bei mir ähnlich abläuft wie das Erarbeiten einer Rolle. Das ist von Text zu Text unterschiedlich. Man beschäftigt sich mit Sinnzusammenhängen, emotionalen Registern, Farben. Bei der Arbeit an einer Rolle kommt dann irgendwann ein Aha-Moment. Dann wird sie lebendig, körperlich.
Und das suchst du auch beim Übersetzen?
Ich kann gar nicht anders. Ich will auch beim Übersetzen an den Punkt kommen, an dem ich dem Text so nahe bin wie als Schauspieler meiner Figur. Ziel ist es, diesen Zustand zu erreichen; etwas Vibrierendes, das zwischen den beiden Sprachen liegt.
Du übersetzt in beide Sprachrichtungen. Hast du eine bevorzugte Richtung?
Ich übersetze häufiger ins Deutsche, kann mir aber auch vorstellen, mehr in die andere Richtung zu übersetzen. Es hat sich so ergeben, dass meine grösseren Projekte Übersetzungen ins Deutsche waren. Ich habe auch schon kürzere Prosatexte ins Französische übersetzt, und es war einmal ein Romanprojekt geplant, das dann leider nicht zustande kam.
Wie sieht dein Arbeitsalltag als Theatermacher, Sprecher und Übersetzer aus? Also nicht in Zeiten von Corona natürlich.
Mein Alltag hat sich gar nicht so stark verändert mit der aktuellen Situation. Es ist ja nicht so, dass ich dauernd inszeniere und spiele. Inzwischen mache ich vielleicht alle zwei Jahre noch ein grösseres Theaterprojekt. In letzter Zeit gab es eine Verlagerung hin zum Übersetzen und Schreiben. Als Sprecher hingegen bin ich sehr aktiv, ich mache alles von Werbung über Dokumentarfilme bis zu einer Rilke-Lesung. Dazu kommen sporadisch Film- oder TV-Rollen oder Einsätze als Moderator. Aber meine langfristigen Projekte sind heute Literaturübersetzungen.
Du wirst ja bald pensioniert. Wie geht es dann weiter?
Wenn ich gesund bleibe und es im Herbst auch noch Verlage gibt, kann ich noch lange als Übersetzer arbeiten. Zudem schreibe ich immer ein bisschen an eigener Prosa. Mal sehen, was daraus wird. Wo ist denn jetzt mein Bier?
Wir machen eine kurze Pause, und ich hole ein Bier für Yves.
Kommen wir zu deinen Übersetzungen. Von Philippe Rahmy hast du Die Panzerung (Béton armé) übersetzt und 2019 dafür eine literarische Auszeichnung der Stadt Zürich erhalten.
Eine grosse Ehre! Auch sonst gab es positive Reaktionen auf das Buch und eine schöne Rezension in Bücher am Sonntag der NZZ. Aber die Leute reden natürlich vor allem vom Buch und nicht von der Übersetzung. Spannend ist, dass ich mich dann beim Gedanken ertappe: «Aber das ist doch mein Buch!» Ich weiss natürlich, dass es nicht mein Buch ist.
Was ist denn eine Übersetzung für dich? Ein neues, eigenständiges Werk?
Eine Übersetzung ist ein neues Buch. Ich bin in den Büchern, die ich übersetzt habe, zwar versteckt, aber mit jedem Satz präsent. Das geht gar nicht anders. Aber der Autor des Originals muss in der Übersetzung ebenso physisch spürbar bleiben. Sonst ist das Buch tot. Es ist heikel, als Schauspieler Literatur zu übersetzen, da Schauspieler das Rampenlicht suchen. Als Übersetzer hingegen gilt es, genau das nicht zu tun.
Die Panzerung spielt in Shanghai. Darin verarbeitet Philippe Rahmy, der unter der Glasknochenkrankheit litt, die Erlebnisse seines zweimonatigen China-Aufenthalts. Wie war es, dieses Buch zu übersetzen?
Ich war schon in der Hälfte des Buches und dachte zuerst, es läuft gut. Dann kam ich ins Zweifeln. Hatte ich das Buch verstanden? Zudem bin ich kein Asienkenner, und mir kam alles im Buch irgendwie seltsam vor.
Und deshalb bist du selbst nach Shanghai gereist?
Genau, ich musste es tun, weil mir von China die Bilder fehlten und ich besser verstehen wollte, zu welcher Reise Philippe Rahmy aufgebrochen war. Zum Glück habe ich von der Tophoven-Stiftung ein Recherchestipendium erhalten. Erst vor Ort habe ich wirklich verstanden, dass Die Panzerung mehr als ein Reisetagebuch ist. Ich irrte durch die Stadt und suchte nach den Orten, die er beschreibt – und konnte sie nicht immer finden. Entweder hatte ich mich verirrt, oder es gab die Orte nicht mehr, weil sich die Stadt so schnell verändert. Oder aber Rahmy hatte die Orte erfunden. Ohne Shanghai-Reise wäre diese Übersetzung nicht möglich gewesen, zumindest wäre sie nicht wirklich gelungen.
Was waren die grössten Herausforderungen beim Übersetzen von Die Panzerung?
Rahmy tendiert, wie übrigens auch andere frankophone Autoren, zur Intellektualisierung, und er scheut sich gleichzeitig vor, wie soll ich sagen, envolées lyriques nicht zurück. Die Sätze sind zuweilen abstrakt und poetisch zugleich und manchmal enigmatisch. Hier ein Beispiel – über zwei Monate hinweg habe ich an diesem Satz immer wieder geschraubt:
Ce n’est pas une ville que voit celui qui débarque à Shanghai, mais un symbole incandescent d’humanité. |
Wer nach Shanghai kommt, findet keine Stadt, sondern ein Symbol überhitzten Daseins. |
Lass uns noch über einen ganz anderen Text sprechen. Von Jean-Pierre Rochat hast du Jeden Tag eine Geschichte (Chaque jour une histoire) übersetzt. Was ist das für ein Buch?
Ich habe das Buch schon fertig übersetzt und es ist momentan im Lektorat. Es entstand in der «Robert Walser-Sculpture», einer grossen Installation von Thomas Hirschhorn auf dem Bahnhofplatz in Biel. Rochat hat jeden Tag einen Text geschrieben und am Abend dort vorgelesen. Was er einmal geschrieben hat, lässt er am liebsten genauso stehen.
«Übersetzer im Porträt»: Steven Wyss und Yves Raeber im Gespräch über den Dächern Zürichs.
Hier ergeben sich beim Übersetzen also ganz andere Schwierigkeiten als beim intellek-
tuellen Stil von Rahmy.
Wie übersetzt man einen literarischen Text, der nach gängigen Kriterien auch mal unfertig wirkt, so, dass dieses Unfertige erhalten bleibt? Dieses schnell Dahingeworfene soll aber weder dem Autor noch dem Übersetzer als unausgegoren oder schluderig angelastet werden. Der Übersetzer muss diesen Gestus des Unfertigen behalten, aber was er macht, muss nun mal irgendwann zu einem Abschluss kommen. Und das Endresultat darf nicht unfertig wirken. Das ist eine der Schwierigkeiten dieser Übersetzung.
Und ist dir das gut gelungen?
Ich bin bisher einigermassen zufrieden mit dem Text. Er liest sich gut und ist lustig und hintergründig. Bei der Überarbeitung möchte ich ihn an gewissen Stellen vielleicht noch etwas aufrauen.
Weisst du schon, wann das Buch erscheinen wird?
Entweder im Herbst oder im nächsten Frühling im verlag die brotsuppe. Die Verlegerin, Ursi Anna Aeschbacher, macht gerade das Programm.
Welche Projekte stehen sonst noch an momentan?
Zurzeit arbeite ich an November von Jean Prod’hom, der durch die Drei-Seen-Landschaft gewandert ist und uns diese Terra incognita auf vielschichtige Weise näherbringt. La balade des perdus (Arbeitstitel: Luc und das Glück) von Thomas Sandoz wird gerade lektoriert. Da geht es um eine Irrfahrt vier behinderten Jugendlichen, ein verblüffender und witziger Text. Beide Bücher werden im verlag die brotsuppe erscheinen. Und im nächsten Jahrbuch von Viceversa wird die verstörende, kurze Erzählung Ein stummer tschetschenischer Wald von Marc van Dongen zu lesen sein.
Ich bin durch mit meinen Fragen. Hast du noch etwas, was du loswerden möchtest?
Ich finde, es ist ein grosses Glück für mich, dass ich an dem Punkt meines Lebens, also vor ungefähr fünf Jahren, angefangen habe, Prosa zu übersetzen und dafür sofort Zuspruch und Anerkennung erhielt. Innerhalb von drei Jahren habe ich einen grossen Werkbeitrag des Kantons Zürich, einen Rechercheaufenthalt und eine literarische Auszeichnung der Stadt Zürich bekommen. Wahnsinn! Dafür bin ich sehr dankbar.
Vielen Dank für das Gespräch. Nehmen wir noch ein Bier?
Klar!
Wir stoppen die Aufnahme, ich hole noch zwei Bier, und wir geniessen die Aussicht auf die Stadt.
*Les 42e Journées Littéraires de Soleure ont exceptionnellement pris place en ligne, en raison de la crise sanitaire. Le CTL reproduit ici l'entretien mené avec le traducteur pour la section «Livre du bord», sur l'invitation du festival.*